Saturday, April 2, 2022

DAS KREUZ DER WEIHNACHTSTAGUNG - Antrag an die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 2022 am Goetheanum zur „Nicht-Entlastung des Vorstands“


Motto 

Was die Satzung von Manu war für das Alt-Indische Volk
und das Gesetz von Moses für das Israelitische Volk,
das waren die Statuten Rudolf Steiners
zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft
als die Form für das wahre Christentum der 6. Kulturepoche.“

Frei nach Rudolf Steiner, Valentin Tomberg und Herbert Witzenmann


Vorbemerkung 

Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft verfolgt nach §2 ihrer heutigen Statuten „ihre Aufgaben und Ziele nach dem ihr von Rudolf Steiner vorgeschlagenen und bei der Gründungsversammlung am 28. Dezember 1923 von den Mitgliedern einstimmig angenommenen Gründungs-Statut. Diesem Gründungs-Statut entsprechend obliegt ihr die Aufgabe der Pflege künstlerischer, wissenschaftlicher und erzieherischer Bestrebungen im Sinne des Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.“

Was nun der Aufgabe des Vorstands betrifft, so sagte Rudolf Steiner an dieser Gründungsversammlung der Weihnachtstagung am 27. Dezember  1923 das Folgende: „Der Zentralvorstand wird als seine Aufgabe lediglich die Realisierung der Statuten zu betrachten haben; er wird alles zu tun haben, was in der Richtung der Realisierung der Statuten liegt. Und damit ist eine große Freiheit gegeben. Aber zugleich weiß man auch, was man an diesem Zentralvorstande hat, denn man hat die Statuten und kann aus ihnen ein vollständiges Bild gewinnen von dem, was er jemals tun wird. Dadurch ist auch die Möglichkeit geschaffen, überall auf realem Boden zu stehen, wo solche Vereinigungen entstehen, wie zum Beispiel der Goetheanum-Bauverein. Und es wird in den nächsten Tagen die Aufgabe sein, zwischen dem Vorstand, der sich gebildet hat und dem Goetheanum-Bauverein, die entsprechende Relation zu bilden.“

Man kann die zweifache Aufgabe, die Rudolf Steiner hier beschreibt, in der Gestalt eines Kreuzes betrachten: deren vertikale Linie wäre die Realisierung der Verbindung zwischen Himmel und Erde durch die Erschaffung einer gemeinsamen ätherischen Bewusstseinsschale für die Aufnahme des neuen Erkenntnis-Christentums von Freiheit und Liebe. Rudolf Steiner schrieb im Nachrichtenblatt vom 13. Januar 1924 immerhin, dass mit der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft die Form beabsichtigt wurde, welche die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege bedarf, und er charakterisierte diese Bewegung am 18. Juli 1924 in Arnheim als das neue Christentum, welches den am himmlischen Michaelkultus in  der geistigen Welt beteiligten anthroposophischen Seelen vorbestimmt waren, um im „Aufbruch zur VI. Kulturperiode“ diese innerhalb der irdischen Menschheit vorzubereiten. So lautet nämlich der Titel einer Ausgabe der gesammelten, frühen  Aufsätze von Valentin Tomberg, aus denen unter anderem ersichtlich wird, inwiefern das für das verstehende Erleben des neuen Erkenntnis-Christentums die "Philosophie der Freiheit" von Rudolf Steiner die methodische Grundlage bildet.

Die horizontale Linie dieses Kreuzes der Weihnachtstagung enthielte dann, im Lichte der sozialästhetischen Studien Herbert Witzenmanns [1], die Orientierung, wie durch die „Bildung der entsprechenden Relation“ auf Vorstandsebene zwischen allen anthroposophischen Gesellschaften und Organisationen weltweit - als Unterabteilungen der neu zu etablierenden Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft - die Übereinstimmung mit dem Gründungs-Statut der Weihnachtstagung zu erreichen wäre, mit jener Weihnachtstagung also, die nach Rudolf Steiner einen Welten-Zeiten-Wende-Anfang enthielt. In seiner Einführung zum Buch "Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums" von Rudolf Steiner hat Herbert Witzenmann diesen  Welten-Zeiten-Wende-Anfang als die zeitgemäße Metamorphose der urchristlichen Glaubensgemeinde in der Zeit des Mysterium von Golgotha hin zu einer Erkenntnisgemeinschaft des neuen Christentum dargestellt.  Und wenn Rudolf Steiner in seinem einzigen Vortrag über dem Manichäismus am 11. November, 1904   in Berlin davon spricht, dass die äussere Organisationsform für das wahre Christentum der 6. Kulturepoche, „die Gemeinde, in der zuerst der christlichen Funke so recht Platz wird greifen können,“  schon jetzt in der heutigen 5. Epoche geschaffen werden muss, so kann man dies in dem Gründungs-Statuts der Weihnachtstagung erblicken. 

Doch im Laufe der Zeit gerieten 9 von den 15 Paragraphen des Gründungs-Statuts leider außer Funktion, da ihre Bedeutung nicht verstanden wurde. Dies hat Reto Andrea Savoldelli im Kapitel „Der stufenweise Verlust der sozialästhetischen Qualifizierung in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ im zweiten Teil seiner Trilogie Zur Tätigkeit von Herbert Witzenmann im Vorstand am Goetheanum gezeigt.  Bevor somit die Statuten der Weihnachtstagung überhaupt realisiert werden können, müssten sie zuerst wieder in Kraft gesetzt werden.

Eine Vorgehensweise, wie die Wiederherstellung und Verwirklichung des Gründungsstatuts zu erreichen wäre, habe ich in einer Empfehlung ab 2018 in verschiedenen Anträgen, Anliegen, in Artikeln und Arbeitsgruppen sowohl in Dornach wie in Holland zu formulieren versucht.  So wurde an der Generalversammlung von 2020 ein wohlbegründeter Antrag unter der Bezeichnung „Das neue Christentum wollend in Liebe der Welt verbinden zur Gesundung von Mensch und Erde“ gestellt, der aber  unter der Versammlungsleitung des Vorstandsmitglieds Justus Wittich durch einen Nicht-Eintretens-Antrag diskussionslos vom Tisch gewischt wurde.

Um eine Wiederholung zu vermeiden und um endlich eine Diskussion zu ermöglichen im Sinne von Paragraph 8 der heutigen Statuten („Anliegen, die geistige Ziele und Aufgaben der Gesellschaft betreffen, werden nur in freier Aussprache behandelt. Eine Abstimmung darüber findet nicht statt."), habe ich anlässlich der letzten Generalversammlung vom 27. März 2021 keinen Antrag, sondern ein Anliegen unter dem Titel „Zur Wiederherstellung und Verwirklichung der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft im Hinblick auf die Jahrhundertfeier der Weihnachtstagung im Jahre 2023“ im grossen Saal des Goetheanum per Video-Übertragung vorgebracht. Sein Text (ohne Begründung) lautete wie folgt:

 „Die Generalversammlung bittet den Vorstand, zu prüfen, ob die oben [d.h. in meinem Antrag vom 2020] dargestellte Vorgehensweise um die an der Weihnachtstagung 1923 beabsichtigte, aber seitdem ernsthaft beschädigte und verlassene Form für die Pflege der anthroposophischen Bewegung als Erscheinung des neuen Christentums im Hinblick auf die Jahrhundertfeier der Weihnachtstagung im Jahre 2023 zeit- und geistgemäss wieder herzustellen und zu verwirklichen sei und im positiven Falle dies innerhalb von 6 Monaten der Mitgliedschaft bekannt zu machen. Falls dies nicht möglich sei, möge der Vorstand angeben, wie es dann sonst wohl möglich ist.“

Versammlungsleiter war wiederum Justus Wittich. Doch statt mein Anliegen einzuführen, las er irrigerweise stattdessen aus der Vorbemerkung meinen Antrag von 2020 vor. Danach wörtlich: „Herr Kelder empfehlt der Generalversammlung das und diese Empfehlung nehmen wir sowieso an, weil wir in der Konstitutionsgruppe dabei sind, diese Frage auszuarbeiten und mit den Mitgliedern für die Gesellschaftsgestaltung darauf einzugehen, aber die Frage ist, ob sie ins Gespräch kommen wollen zur Abstimmung, weil Herr Kelder ein Beschluss herbeibringen will [was eben nicht stimmt], dem Vorstand dies und jenes zu empfehlen und zu fordern.“ Nachdem seine Frage an die Generalversammlung, ob sie diesen Antrag [was kein Antrag sondern ein Anliegen war] behandeln will, mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, sagte er: „Ich möchte Herrn Kelder berichten, wir sind im Vorstand dies zu unterstützen sehr einig, aber als Beschluss der Generalversammlung dies zu unterstützen ist es eigentlich ein Anliegen, aber kein Antrag.“

Justus Wittich hat also verschwiegen, dass ich 2021 ein Anliegen und gar keinen Antrag eingereicht hatte und damit auch keinen Beschluss der Generalversammlung herbeiführen wollte, sondern eine Diskussion über die Grundlagen unseren Gesellschaft eröffnen wollte, was er, aus Versehen oder was auch immer, leider verhindert hat. 

Nun nähern wir uns den Gründen, weshalb ich mich veranlasst sehe, diesen Antrag zur Nicht-Entlastung des Vorstands stellen zu müssen. Das Versprechen des Vorstandes, mein Anliegen bzw. meinen Antrag in der hierfür existierenden "Konstitutionsgruppe" weiter auszuarbeiten, wurde nämlich trotz zweifacher, schriftlicher Erinnerung in keiner Weise erfüllt. Anstelle dessen hat das leitende Mitglied dieses Kolloquiums Gerald Häfner, Leiter der Sozialwissenschaftlichen Sektion,  wiederholt betont, dass das Mandat der "Konstitutionsgruppe" eine solche Erörterung der Gesellschaftsgestaltungsfrage gar nicht zulasse. Diese soll unter formal-juristischen Geschichtspunkten ausschließlich die Chronologie der Konstitutionsgeschichte erarbeiten. Es gehe hier um Fakten, nur um Fakten, und nicht um Interpretationen. Dies ist aber eine tiefgreifend materialistische Vorgehensweise, wie man sie aus der Naturwissenschaft her kennt, die jedoch innerhalb des geisteswissenschaftlichen Gebietes ungeeignet ist, Geschweige angesichts des spirituellen Weihnachtstagungsimpulses, bei dem  vom Ideell-Urbildlichen auszugehen ist, wobei dem Faktischen und dem Juridischen eine untergeordnet darstellende  Rolle zukommt, welches allein im Hinblick auf das Urbildliche sachgemäß zu interpretieren ist.

Von einer Arbeit zur Gesellschaftsgestaltung, wovon Justus Wittich bei seinem Kommentar zu meinem Anliegen sprach, ja von einer Wiederherstellung des Gründungs-Statuts ist überhaupt nichts geworden. Eine solche wurde durch das eingeschränkte Mandat der Konstitutionsgruppe unmöglich gemacht, da es nicht beabsichtigt war. Es wundert denn auch nicht, dass nachdem schon die Konstitutions-Experten Mees Meeussen und Sebastian Boegner sich aus Unfrieden aus dieser Gruppe zurückgezogen hatten, ein anderes aktives Mitglied derselben, Thomas Heck, erklärte, dass auch er nicht weiter mitarbeiten kann, und, nachdem er sich beklagt hatte,  „dass es in gewisser Weise inzwischen als normal anzusehen ist, dass von Gerald Häfner und Justus Wittich inhaltliche Nachfragen nicht beantwortet werden“, er in einer Mail vom 24. März an das Kolloquium schrieb: „Zu der entscheidenden Frage nach der Identität der ‚Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft‘ sind wir gar nicht gekommen.“

Zu dieser entscheidenden Frage hat sich nun Herbert Witzenmann in nicht allein in seinen hier genannten Studien und Aufsätze vielfach und tiefgehend geäußert, sondern auch durch zahlreiche Vorträge, Seminaren  und Tagungen in seiner Funktion als Mitglied des Goetheanumsvorstandes und Leiters der sozialwissenschaftlichen Sektion. Trotz meiner wiederholten Empfehlungen, diese einzigartige gesamtgesellschaftliche Forschungsarbeit zur Kenntnis zu nehmen und anzuwenden, wie dies übrigens auch vom Häfners Vorgänger Paul Mackay empfohlen wurde, indem dieser im Nachrichtenblatt 9, 2005  schrieb, dass „Witzenmanns wegleitende Schriften zur sozialen Frage, wertvolles Arbeitsmaterial sind für jeden, der sich mit einer zeitgemäßen Sozialwissenschaft beschäftigen will“,  wurde also trotzdem dies bis heute vom Vorstand und Hochschulleitung übergangen. Dasselbe Schicksal erlitt das Anliegen von Eugen Meier, die Rehabilitation des Werkes  von Herbert Witzenmann betreffend, dass an der Generalversammlung von 2020 vom Vorstand entgegengenommen wurde, meines Erachtens aber bis heute nicht verwirklicht worden ist.

Die angeführten Vorkommnisse zeigen, dass leider kein Grund vorliegt, die Hoffnung zu hegen, dass es mit diesem heutigen Vorstand und der jetzigen Goetheanum-Leitung, deren Einsatz unbestritten wird, bei der Jahrhundertfeier der Weihnachtstagung im kommenden Jahr etwas wirklich Wahrhaftes zu feiern geben wird (es sei denn, ein Wunder passiert und/oder mein nun folgender Antrag wird angenommen). Höchstens kommt es zu einem nostalgischen Rückblick auf die ruhmreiche Vergangenheit, als Rudolf Steiner noch unter diesem Namen verkörpert war. Nein, bis heute ist leider (noch) nicht gut geworden, "was wir aus Herzen gründen, was wir aus Häuptern zielvoll führen" wollten. Es ist eigentlich eine Ungereimtheit, den Grundsteinspruch ohne Bewusstsein dieser traurige Tatsache unablässig zu zitieren, ohne alles zu tun, um die bei der Weihnachtstagung beabsichtigen Organisationsform des neuen Christentums im Sinne des Zeitgeistes wiederherzustellen.  Die peinliche Abwesenheit dieses neuen Zivilisationsprinzips ist die größte Bedrohung des Weltfriedens.

Unter der Voraussetzung, dass in einer anthroposophischen Gesellschaft die Entlastung des Vorstands nicht nur das Administrative, sondern auch das Geistige betrifft, d. h. dasjenige, was der Vorstand im Namen der Gesellschaft übernommen bzw. versäumt hat zu übernehmen um das Gründungs-Statut zu verwirklichen, stelle ich nun den folgenden Antrag: 

Antrag

Aufgrund der Vernachlässigung der von Rudolf Steiner dem Vorstand anvertrauten Hauptaufgabe, die allumfassende 15 Paragraphen  des Freiheitsstatuts der Anthroposophischen Gesellschaft als die angestrebte Formkraft des erneuerten Christentums auf Erden zu realisieren, sowie u.a. aufgrund der Nicht-Erfüllung des vom Vorstand an der letzten Generalversammlung ausgesprochenen Versprechens, das Anliegen Kelder zur Wiederherstellung jener seit der Weihnachtstagung schwer beschädigten und vernachlässigten Form in der sog. "Konstitutionsgruppe" auszuarbeiten, wird die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft gebeten, den Vorstand nicht zu entlasten.

Falls der Antrag angenommen wird, möge der Vorstand als Interim-Vorstand seine Geschäfte solange weiterführen, bis an einer außerordentlichen Generalversammlung ein neuer Vorstand gebildet werden kann, der bereit und in der Lage sein wird das Gründungs-Statut der Gesellschaft im Sinne des Zeitgeistes wiederherzustellen und dabei der von Rudolf Steiner in ihnen veranlagte sozialorganische Ordnung innerhalb des Geisteslebens  der Menschheit zur Verwirklichung zu verhelfen.