I. Was gewollt war
Es bestehen innerhalb der Gesellschaft verschiedene, oder gar
gegensätzliche Auffassungen, wie denn genau die Konstitutionsfrage lautet und
deswegen auch ebenso viele Antworten darauf. Meiner Auffassung nach geht es um
die Grundfrage, ob die Weihnachtstagung gelungen ist oder (noch) nicht,
und ob die Form, die während der Weihnachtstagung intendiert war, also die
Gründungsstatuten, ohne die physische Anwesenheit Rudolf Steiner noch zu
verwirklichen sind. Diese Frage habe ich seit 2018 mit jährlich Anträge an
die Generalversammlungen der AAG unter verschiedenen Gesichtspunkten
ausführlich behandelt sowie Antworten dazu, die alle zu lesen sind auf http://Willehalm-Stiftung.blogspot.nl.
Nun, aus dem anoniemen Programmtext der Tagung der Sozialwissenschaftlichen Sektion unter der Leitung von Gerold Häfner geht die
Auffassung hervor, dass die Weihnachtstagung misslungen sei, denn es wird
darin behauptet, dass der von Rudolf Steiner durch die Weihnachtstagung
geschaffener geistig-sozialer Boden, worauf die Mitglieder meinen zu stehen,
eine Illusion ist. Zitat:
"An Weihnachten 1923/24 hatte Rudolf Steiner
die Anthroposophische Gesellschaft neu begründet. Unter seiner Vorbereitung und
prägenden Gestaltung vollzog sich ein einzigartiger Inkarnationsvorgang, der
die geistige wie irdische (soziale) Welt in bisher ungekannter Weise umfasste.
Das ist der Boden, auf dem wir heute als Mitglieder der Anthroposophischen
Gesellschaft stehen. So unser Verständnis. Doch die Wirklichkeit ist anders.
Noch während der Weihnachtstagung wies Rudolf Steiner darauf hin, dass die Konstitution
noch nicht vollendet sei. Insbesondere die von ihm unternommenen Versuche, zu ‚dem
Goetheanum-Bauverein die entsprechende Relation zu bilden‘ (GA 260, S. 110),
kamen zu seinen Lebzeiten nicht mehr vollständig zum Abschluss. Im Bemühen,
diese einheitliche Konstitution zu realisieren getroffene Entscheidungen
führten nach seinem Tode im Ergebnis dazu, dass die zu Weihnachten 1923
gegründete Gesellschaft ab 1925 und seither im (Rechts-)Leib des ehemaligen
Bauvereines weiterlebt. Wie konnte es dazu kommen? Und was bedeutet das für die
heutige Anthroposophische Gesellschaft? Welche Statuten gelten – und welche
sollen in Zukunft Gültigkeit haben?"
Wie ich des Öfteren, und zuletzt in meinem Antrag
im Frühjahr an die GV der AAG "Das Kreuz der Weihnachtstagung als
Rechtsform des neuen Christentums" vielfach darauf hingewiesen habe, hat Rudolf
Steiner sehr wohl diesen realen Bodem geschaffen, worauf weiter gebaut werden
soll. So sagte er am 27. Dezember 1923: "Der Zentralvorstand wird als seine
Aufgabe lediglich die Realisierung der Statuten zu betrachten haben; er wird
alles zu tun haben, was in der Richtung der Realisierung der Statuten liegt.
Und damit ist eine grosse Freiheit gegeben. Aber zugleich weiß man auch, was
man an diesem Zentralvorstande hat, denn man hat die Statuten und kann aus
ihnen ein vollständiges Bild gewinnen von dem, was er jemals tun wird. Dadurch
ist auch die Möglichkeit geschaffen, überall auf realem Boden zu stehen, wo
solche Vereinigungen entstehen, wie zum Beispiel der Goetheanum-Bauverein. Und
es wird in den nächsten Tagen die Aufgabe sein, zwischen dem Vorstand, der sich
gebildet hat, die entsprechende Relation zu bilden." (Siehe:
http://willehalm-stiftung.blogspot.com/2023/03/das-kreuz-der-weihnachstagung-als.html)
Darin liegt eben das Konstitutions-Problem oder die
Tragik, dass man allmählich versäumt hat oder unfähig war, die
allumfassenden Freiheitsstatuten zu realisieren, auch innerhalb
der AAG, denn dessen 2. Statut lautet immerhin: "Die Gesellschaft
verfolgt ihre Aufgabe und Ziele nach dem von Rudolf Steiner
vorgeschlagenen und bei der Gründungsversammlung am 28. Dezember 1923 von
den Mitgliedern einstimmig angenommen Gründungsstatut." Dies hat Vorrang, und
deshalb wollte Rudolf Steiner, nach Günther Wachsmuth, nicht dass man sich von
den juristischen Statuten, die nur für die Aussenwelt bestimmt waren, ablenken soll und man sich stattdessen der Aufgabe zuwenden soll, das mit der
Weihnachtstagung inaugurierten neuen Zivilisationsprinzip zur Rettung der
Menschheit und Erde zu verwirklichen. Wie in diesem Sinne Rudolf Steiner mit
der Weihnachtstagung sowohl das Urbild wie das Vorbild der modernen Erkenntnis-
und Leistungsgesellschaften gebildet hat, hat Herbert Witzenmann in seiner vier
Sozialästhetische Studien, vor allem in „Der Urgedanke - Rudolf Steiner Zivilizationsprinzip
und die Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft“ dargestellt (siehe
www.Das-Seminar.ch). Darin hat er sich auch geäußert über die kontroversen
Vorgänge vom 8. Februar 1925. Er beendet dies wie folgt: „Was die Vorgänge vom
Februar 1925 anlangt, so wird, wer einige Übung im Tatsachendenken hat und die
Neigung besitzt, dieses anzuwenden, unschwer in der Lage sein, das in ihnen
Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden und misstrauende Spekulation
meiden. Dass auch andere Formulierungen denkbar sind, als jene, die Rudolf
Steiner selbst nur für provisorisch zweckmässig hielt, und damit auch solche
Anpassungen der zu treffenden Ordnungsmassnahmen an die behördlichen
Forderungen, welch die Intentionen Rudolf Steiners besser, als es damals
geschah, zum Ausdruck bringen würden sollte nicht der Erwähnung bedürfen, -
aber auch, dass es sich dabei nicht um Fragen handelt, welche die Grundlagen
von Hochschule und Gesellschaft betreffen. – Es sind die Grundlagen, die Rudolf
Steiner eine immer bemühten Strebensgemeinshaft gegeben hat, die berufen ist,
unter Verwandlung der operationalistischen Bewusstseinshaltung aus zeitgemäss
meditativer Denkgesinnung eine sozialästhetische Ausdruckswelt zu schaffen.“
II. Was geworden ist
Das war also gewollt. Was nun daraus geworden ist, ist das im Laufe der
Zeit 9 von den 15 Gründungsstatuten ausser Kraft gesetzt oder nicht beachtet wurden,
wie dies Reto Andrea Savoldelli in seiner Schrift „Prinzipien vs Statuten – Ein
Verwirrspiel als Prüfstein der anthroposophischen Gesellschaft“ gezeigt hat
(siehe: www.Das-Seminar.ch). Von diesem Versäumnis, oder Nachlässigkeit ist
z.B. in der bis jetzt nicht von der Generalversammlung
der Allgemeinen Anthroposophischen
Gesellschaft genehmigten „Chronologie zum Konstitutionsgeschehen der
Anthroposophische Gesellschaft“ nichts zu lesen, ja im 4. Kapitel „Das
Entstehen des Konstitution-Problems“ wird sogar behauptet, dass nur dadurch
dass der Vorstand personenidentisch ist in beide Körperschaften
(Anthroposophische Gesellschaft und Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft) eine
einheitliche Leitung zunächst herbeigeführt würde, ohne hinzuzufügen, dass man dabei
sich auf die Statuten der Weihnachtstagung zu orientieren hat, und auch, dass
das Schweizer Rechtshof 2005 geurteilt hat, das beide Gesellschaften eben eins
geworden sind. Der Grund dazu, das sog. Konkludenten Verhalten, war juristisch nicht
ganz in Ordnung, aber wie ich schon in meiner Anträge gestellt habe – ohne dass
darauf, trotz dem Versprechen vom Vorstand eingegangen ist – wurde dadurch das
man immerhin mindestens versucht hat bis etwa die 70‘ Jahren die Kultur der
Weihnachtstagung in der Allgemeinen Anthroposophische Gesellschaft zu pflegen, gesagt
werden kann, dass durch Gewohnheitsrecht die beide Körperschaften eins geworden
sind.
Diese Chronologie ist nicht abgeschlossen, denn die
Frage nach der Identität der Anthroposophischen Gesellschaft wurde offengelassen
(Verein im Rechtsleben oder freie Gesellschaft im Geistesleben?) sowie
scheinbar auch die Frage auf S. 34: „welche von den beiden Statuten ist nun für
das Leben der Anthroposophischen Gesellschaft richtig und rechtskräftig?“,
womit man die Aussage von Günther Wachsmuth, dass Rudolf Steiner gesagt hat,
dass eben die Gründungsstatuten maßgeblich sind, dass man sie „Prinzipien“
nennen soll und das eine (provisorische) einheitliche Konstitution vollzogen
sei, in Abrede gestellt hat. Und so ist
genau dadurch, dass man die Statuten über den „Prinzipien“ gesetzt hat, daraus geworden,
was schon Elisabeth Vreede in einem Brief vom 8. 2. 1925 an Albert Steffen
geschrieben hat: „Ich kann nur unendliches weiteres Unheil für die Gesellschaft
daraus erwarten.“ (Zitiert in der Chronologie auf S. 33).
Die Chronologie endet damit, dass doch die Frage „Prinzipien oder Statuten?“ implizit beantwortet wird, indem geschrieben wurde: „Erst durch die ‚Mitteilung des Vorstandes vom 22. 3. 1925‘ (von Wachsmuth verfasst) und dann durch die Vorgänge zur ersten Generalversammlung am 29. 12. 1925 konnte dieses verhängnisvolle Missverständnis offenbar werden und sich manifestieren, dass eine einheitliche Konstitution insgesamt nun vollzogen sei und damit auch die Mitglieder des am 8. 2. 1925 gegründeten Vereins ‚Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ aufzutreten und fortan nach dessen Statuten sein Leben zu führen hatten.“ Diese Zwangslage für die Mitglieder sich nur nach den Statuten und nicht nach den „Prinzipien“ zu leben bestand und besteht eben nicht, denn, wie schon darauf aufmerksam gemacht, soll man zich nach dem 2. Statut der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft auf an Gründungsstatut orientieren.[1]
III. Was werden will
Wir sind also als Mitglieder nicht, wie manche
behaupten, in der verkehrten Gesellschaft geraten, sondern eben in der Richtigen,
nur dass deren sozialorganischen Leiblichkeit ernsthaft geschädigt, ja verletzt
wurde, die deswegen wiederherstellt werden soll um somit als die
Organisationsform zur Vorbereitung des neuen Christentums der 6. Kulturepoche zu
dienen. Von dem Aufgreifen dieser Aufgabe wird es abhängen, ob nun die
Jahrhundertfeier eben eine Feier wird oder ein Trauerspiel.[2]
[1] Wie dies geschehen kann, siehe „Die Prinzipien der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft als Lebensgrundlage und Schulungsweg“, „Gestalten oder Verwalten – Rudolf Steiners Sozialorganik / Ein neues Zivilizationsprinzip“ und „Die Fragen der modernen Zivilisation und die Antworten der Prinzipien von Rudolf Steiner“ von Herbert Witzenmann (www.das-Seminar.ch).
[2] Eine wichtige
Hilfestellung zu dieser Aufgabe hat Reto Andrea Savoldelli gegeben in seinem
Aufsatz „Freie Strukturen und geistiger Schutz – Zur Verwirklichung der
Statuten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“, ein Vortrag gehalten
im Goetheanum am 18. September 1999 anlässlich einer Herbert Witzenmann
Gedenktagung, die er als damaliger Geschäftsführer des Gideon Spicker Verlags zusammen
mit dem damaligen ersten Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen
Gesellschaft Manfred Schmidt-Brabant organisiert hat. Er hat in diesem Aufsatz
die Grundlagen für eine weiterführende Kooperation der beiden
Tagungsveranstalter untersucht, wozu es nicht gekommen ist, obwohl er gebeten
wurde einen Vortrag an die kommende Konstitutionstagung zu halten, den er wegen
einer vollen Agenda vorbeigehen lassen musste. Sein Aufsatz ist enthalten in
Heft 1 Dezember 1999 der „Arbeitsberichte des Seminar für freie Jugendarbeit,
Kunst und Sozialorganik.“
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